Die deutsche Minderheit in Rijeka ist überschaubar: Laut dem letzten Zensus (von 2011) liegt die Zahl bei 45. In ganz Kroatien sind es rund 3000 Menschen – die meisten von ihnen leben in Slawonien rund um die Stadt Osijek. Früher, auf Deutsch, hieß sie Esseg. (Oder Essegg. Oder Essek.)
Wie sind die Deutschen da gelandet? Und wie ist ihre Situation heute?
Darüber habe ich fast zwei Stunden mit Vladimir Ham gesprochen, dem Vorsitzenden der Deutschen Gemeinschaft in Kroatien – wegen Corona nur am Telefon, nicht persönlich. (Osijek liegt neun Zugstunden von Rijeka entfernt, eine solche Reise muss während einer Pandemie ja nicht sein.)
Vladimir Ham ist 39, liebt Maultaschen und Schupfnudeln und spricht so gut Deutsch, dass ich ihm direkt einen süddeutschen Akzent unterstelle. Aber seine Muttersprache ist Kroatisch, und länger in Deutschland gelebt hat er nur 1991 und 1992. Da war Ham zehn Jahre alt. Und rund um seine Heimatstadt Osijek war Krieg.
Seine Eltern schickten ihn und den kleinen Bruder nach Mannheim, zu einer Freundin der Großmutter. Die Eltern blieben zurück. „Wer damals nicht zur Arbeit gegangen ist, hat sofort seinen Job verloren“, erzählt Ham.
Er konnte kein Wort Deutsch, war getrennt von den Eltern, fremd in einem fremden Land. „Es gibt Momente, an die ich mich erinnere, die mir auch heute noch Tränen in die Augen treiben“, sagt er.
Ham fing trotzdem an, Deutsch zu lernen – und sogar Klavier zu spielen. „Im Haus gab es ein Klavier, aber das durfte man nicht anrühren, nur, wenn man gespielt hat, also habe ich gespielt.“ Manchmal, erzählt er, habe sein Vater angerufen und er habe ihm am Telefon vorgespielt. Dann weinte der Vater.
Wir sprechen noch keine Viertelstunde und sind schon mittendrin in Hams Familiengeschichte, in der nicht nur der Jugoslawienkrieg traumatisch war.
Es ist die deutsche Herkunft, die in der Familie lange verschwiegen wurde.
Ham erfuhr erst 1991 davon, als der Vater bei der damaligen Volkszählung plötzlich angab, er sei Deutscher. Hams Eltern sprechen kein Deutsch. Die Großeltern schon. Weil die aber nach dem Zweiten Weltkrieg vom kommunistischen Regime verfolgt wurden, brachten sie ihren Kindern die Sprache nicht bei – aus Angst.
Rückblick: Die Vorfahren der deutschen Minderheit waren die sogenannten Donauschwaben – Donauschwaben, weil die Menschen aus Gebieten in Schwaben und Baden stammten sowie rund um die Donau, Gegenden also im heutigen Südwestdeutschland und Österreich. Über die Donau reisten sie auch an. Die Vorfahren von Hams Großeltern etwa stammen vermutlich aus der Steiermark und Baden-Württemberg. Genau wisse man es nicht, sagt Ham.
Die Donauschwaben wanderten im Laufe des 18. Jahrhunderts in drei Wellen ins heutige Slawonien aus – gezielt angeworben von den Habsburger Herrschern, die ihnen eigenes Land und Steuerfreiheit versprachen, weil sie den östlichen Teil Kroatiens wirtschaftlich nutzbar machen wollten.
„Die Werbung war gut, die Realität war anders“, sagt Ham.
Denn die deutschsprachigen Einwanderer bekamen zwar ihr Land – es fruchtbar zu machen, war aber alles andere als leicht. „Sie mussten erstmal diese ganzen Moore trockenlegen“, erzählt Ham. „Und dann die Stechmücken. Und Malaria!“ Letztlich hätten sich die Leute aber durchgebissen und ein Leben aufgebaut, sagt Ham.
Um 1900 waren rund 85 000 Deutsche in Kroatien angesiedelt. Mit dem Untergang Österreich-Ungarns nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden sie zur Minderheit im neu gegründeten Königreich der Kroaten, Serben und Slowenen, dem Vorläufer des späteren Jugoslawien.
Die eigentlichen Probleme begannen aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Mit dem Ende der nationalsozialistischen Besatzung wurden die Angehörigen der deutschen Minderheit – egal ob sie kollaboriert hatten oder nicht – für die Gräueltaten der Nazis verantwortlich gemacht. Während manche noch während des Krieges flohen, wurden andere ermordet.
Das kommunistische Regime entzog den Deutschen ihre Staatsbürgerschaft, konfiszierte ihr Eigentum, auch ihre Häuser. Sie sollten nach Deutschland vertrieben werden, bis dahin schickte man sie in Arbeitslager. Außer Hams Großmutter mütterlicherseits ist das all seinen Großelternteilen passiert.
20 000 Menschen waren betroffen, rund ein Drittel starb in den Lagern. Hams Großeltern überlebten, sie waren damals Kinder. Als sie freikamen, konnten sie in Jugoslawien bleiben, begruben teils aber über Jahrzehnte ihre deutschen Wurzeln, wollten ihre eigenen Kinder nicht mit der Vergangenheit belasten.
So erfuhr Hams Mutter erst Anfang der Neunziger, dass ihr Vater in einem der kommunistischen Lager gewesen war. Nämlich, als Ham seinen Großeltern berichtete, dass er seine Abitur-Abschlussarbeit über das Schicksal der Deutschen im Nachkriegsjugoslawien schreiben wolle. „Dazu kann dir dein Großvater viel erzählen“, habe die Großmutter geantwortet. Die Mutter sei wütend gewesen, dass sie nichts gewusst habe, erzählt Ham.
Und was bewog Hams Vater 1991 plötzlich dazu, sich bei der Volkszählung zu seiner deutschen Herkunft zu bekennen?
„Kroatien war gerade unabhängig geworden, von den Kommunisten war nichts mehr zu befürchten“, antwortet Ham.
Beim Vater des Vaters, Hams Großvater also, sei die Angst trotzdem geblieben. Als Ham als 18-Jähriger der Deutschen Gemeinschaft beitrat, sei der Großvater zwar stolz gewesen, wollte aber nicht, dass er dort verzeichnet wurde. „Er wollte nie wieder auf einer Liste stehen, die ihn als Deutschen führte.“
21 Jahre ist Ham nun Teil der Deutschen Gemeinschaft Kroatiens und seit 2018 deren Vorsitzender. Der nationale Verein wurde 1992 in Zagreb gegründet und 1997 in Osijek, er hat Ableger in ganz Kroatien. Viermal jährlich gibt er eine Zeitschrift für die deutsche Minderheit im Land heraus, das Deutsche Wort.
Hauptanliegen ist es, das Erbe der Deutschen in Kroatien und darüber hinaus bekannter zu machen – eben zeigen, dass da mehr war als der Terror des Nationalsozialismus. Seit zwanzig Jahren richtet die Gemeinschaft wissenschaftliche Tagungen mit internationalen und kroatischen Historikern aus, die zur deutschen Geschichte in der Region forschen. Sie setzt sich außerdem für die Errichtung von Denkmälern für die Nachkriegsopfer ein.
Sie veranstaltet aber auch eine Samstagsschule für Kinder, ein internationales Theaterfestival, Chorsingen, Konzerte oder ein „kleines Oktoberfest“. Rund 2000 Mitglieder zählt die Gemeinschaft, sagt Ham.
Auch bei Angela Merkel waren die Kroatendeutschen – Fotos auf der Homepage zeigen, wie sie der Bundeskanzlerin bei einem Besuch in Berlin 2016 ein Lebkuchenherz überreichen. Merkel lächelt dazu ihr Merkellächeln. Und auf einem Gruppenfoto macht sie ihre Raute, diese typische Geste mit ihren Händen.
Ham sagt, die Gemeinschaft könne sich über mangelnde politische Unterstützung nicht beklagen – weder in Kroatien noch in Deutschland. In Kroatien haben Vertreter der Minderheit einen ständigen Sitz im Parlament.
Schwieriger scheint eher, das Interesse für die deutsche Kultur bei der Bevölkerung zu wecken. „Nach so vielen Jahrzehnten des Schweigens ist das nicht so leicht“, sagt Ham. Er vermutet, dass es viele Menschen gibt, die nicht mal wissen, dass ein Teil ihrer Familie deutsche Wurzeln haben könnte.
„Wenn Sie das Telefonbuch in Osijek aufschlagen – also wenn man Telefonbücher noch benutzen würde – würden Sie sehen, dass jeder vierte oder fünfte Name hier Deutsch ist oder klingt“, sagt Ham. Auch viele Alltagswörter stammten aus dem Deutschen. In Osijek, das heute ungefähr 100 000 Einwohner zählt, war die erste Amtssprache bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Deutsch.
Wir reden nun schon mehr als eine Stunde.
Ham ist Vater einer Tochter, drei Jahre alt, seine Frau ist geborene Kroatin, habe aber Deutsch gelernt, „als ihr klar wurde, dass sie mich heiraten würde“. Ihre Großmutter ist Deutsche. Hams Frau hat mittlerweile die deutsche Nationalität angenommen. 22 anerkannte Minderheiten gibt es in Kroatien – wer sich einer zugehörig fühlt, kann die Nationalität dementsprechend ändern.
Zuhause sprechen die beiden trotzdem Kroatisch – auch mit der Tochter. „Es käme mir unnatürlich vor, die ganze Zeit mit ihr Deutsch zu sprechen“, sagt Ham. Wer seine Kinder zweisprachig erziehen wolle, müsse das konsequent tun, ein Elternteil in der Sprache, der andere in der anderen. „So viel Konsequenz habe ich nicht.“
Vielleicht werde seine Tochter mal auf eine der zwanzig Grundschulen in Osijek gehen, in der es eine Deutschklasse gebe, sagt er. Bislang könne sie auf Deutsch bis zehn zählen. Immer wenn Ham Deutschland besucht, bringt er ihr ein Kinderbuch mit.
Hat er in Deutschland eigentlich einen Lieblingsort?
Ich rechne mit den typischen Antworten: Berlin. München. Hamburg.
Aber Ham sagt: „Pforzheim.“
Eine der Partnerstädte Osijeks. Ham war bis vor kurzem stellvertretender Bürgermeister Osijeks und ist viel gereist. Pforzheim sei die Stadt, in der er am meisten geschlafen habe – „wenn man mein eigenes Bett weglässt“. Er fühle sich dort wohl, finde sich alleine zu recht. „Ich glaube, ich fühle mich in keiner anderen Stadt so zuhause, außer natürlich in Osijek.“
Auch Mannheim wolle er eines Tages wiedersehen, sagt Ham. Seit dem Krieg ist er nicht dort gewesen – aber es war in Mannheim, wo seine Verbindung zu Deutschland begann. Zurück in Kroatien sei er in der Schule im Kroatisch-Unterricht erstmal verwirrt gewesen. „Ich habe Grammatikfehler gemacht, im Deutschen gibt es ja nur vier Fälle, im Kroatischen aber sieben.“
Ham lernte weiter Deutsch, studierte nach dem Abitur Wirtschaft und machte nach dem Examen einen C2-Kurs am Goethe-Institut. Die Arbeit für die Deutsche Gemeinschaft macht er übrigens ehrenamtlich. Auch sein jüngerer Bruder, der für eine Luxemburger Bank arbeitet, ist Mitglied.
Und Hams Hauptjob?
Stellvertretender Direktor des Puppentheaters in Osijek.
Darüber könnte ich vermutlich eine zweite Geschichte schreiben. Und dabei würde ich auf eine dritte stoßen …
Fast zwei Stunden telefonieren wir jetzt.
Von einem, der so zwischen zwei Nationalitäten pendelt, will ich nun noch wissen, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten er zwischen Deutschen und Kroaten entdeckt hat.
Ham glaubt, die Menschen in Slawonien ähneln in ihrer Mentalität den Süddeutschen – nämlich, was Offenheit und Gastfreundschaft angeht.
„Generell würde ich sagen, Kroaten sind gelassener als Deutsche. Manchmal finde ich sie zu gelassen. Ich mag die deutsche Pünktlichkeit und Genauigkeit.“
Am Ende erzählt er von einer Videokonferenz, die er kurz vor unserem Telefonat mit Leuten in Deutschland hatte. Geplant war sie für 9 Uhr. Ham war um 8.59 Uhr online. Die Deutschen nicht. Und um 9.05 Uhr war immer noch keiner da. „Das hat mich überrascht“, sagt er und lacht.
Wissen Sie dass es gab eine Deutsche Minderheit in der Nahe? Um Kočevje (ehemalige Gottschee) in Slowenien, aber man kann merken die Deutsche Einfluss im Sprache an Kroatische Seite des Grenzes auch, um Gerovo. Ich stamme auch teilweise aus diese Minderheit.
Wieder ein sehr interessanter Artikel.
Es erstaunt mich immer wieder, wie wir Deutschen in anderen Ländern eingeordnet und beschrieben werden.
Sind wir wirklich so?