Alter Egos

Seit Jahren ging er jeden Morgen ans Meer. Seine Frau hatte aufgehört zu fragen, wieso. Sie waren nicht unglücklich, er nicht, sie nicht. Sie lebten nur nicht mehr zusammen. Als sie ging, sank er auf den Stuhl am Fenster und dachte: Jetzt ist es immer still. Der Gedanke betrübte ihn nicht.

Die anderen waren jeden Morgen da. Zuerst die beiden Fischer. Fischer durften ohne Ausrede schweigen. Er grüßte, indem er nickte. Der Dicke brummte etwas, der Kleine nicht. Weiter vorn trainierte der Jogger. So rot wie er war, hatte er vor einer Weile angefangen. Der Jogger war so jung wie er damals. Er rannte mit nacktem Oberkörper die Mole entlang, vor und zurück, vor und zurück. Und die anderen waren: der Kampfsportler und die Pudelfrau. Ihnen begegnete er erst auf dem Rückweg. 

Es war nicht so, dass es in seinem Leben nur das Meer gab. Es gab: das Planetarium, das Café, seine Schwester. Das Dorf, aus dem er stammte, gab es nicht mehr.

Am Ende der Mole setzte er sich auf den Boden, zog die Beine an den Körper und schaute aufs Wasser, in den Himmel, ins Gebirge. 

Das Dorf war Teil einer Sache, von der die einen irgendwann glaubten, sie wäre zu groß und die anderen, sie wäre zu klein. Eine Geschichte, die man abkürzen würde, wenn man sie erzählen müsste, weil irgendeiner fragen würde, der fürs Fragen kein Geld bekam. Doch umsonst fragte keiner.

Er schloss die Augen. Wie lange wusste er nicht, aber den Kampfsportler und die Pudelfrau hatte er noch nie verpasst. Sie waren eingespielt, und die Möwen lachten manchmal darüber. 

Es war nicht so, dass es in seinem Leben nur die Mole gab. Es gab: die Besuche im Planetarium, das Café mit den alten Stühlen, die Sonntage bei seiner Schwester. Das Dorf, aus dem er stammte, gab es nicht mehr.

Zurück lief er langsamer. Er sah schon klein den Kampfsportler. Der kickte und trat und schrie, wie er sich so an der Mole entlang arbeitete, als bekämpfte er einen unsichtbaren Feind. Wenn der Feind erledigt war, blieb er mit geschlossenen Augen stehen, während er die Arme vor die Brust hielt und die Handflächen gegeneinander presste. Der Kampfsportler trug immer ein weißes T-Shirt. 

Manchmal überlegte er, mit wem von ihnen er ein Bier trinken würde. Mit der Pudelfrau nicht. Wenn sie sich begegneten, blieb er nie stehen. Wer stehen blieb, hatte verloren. Das galt auf der Straße, das galt im Krieg.

Zu dem Mann war er gegangen, als er gehört hatte, dass Männer wie er kaum redeten, weil man selber reden sollte. Das Problem war nur, dass der Mann sehr wohl sprach. 

Die Frau lief ein ganzes Stück hinter ihren Hunden, die Königin schickte die Narren vor. Er hielt den Blick gesenkt, aber manche Menschen wurde man nicht los, auch wenn man sie fortstieß.

Das Problem war, dass der Mann sehr wohl sprach. Der Mann sprach, und er schwieg. Worte waren für die Zeit vor dem Krieg da, nicht für die Zeit danach.

Die Pudel bewegten sich nie weiter als einen Meter voneinander weg. Alle drei sahen gleich aus, alle drei kläfften spitz. Zwei bestiegen einander.

Das, wofür es keine Worte gab, nahm er mit in seine Träume, und seine Träume nahm er mit ans Meer, leerte sie jeden Morgen aus wie einen Eimer Dreck.

Die Frau reckte ihr Kinn zum Himmel und schimpfte über den Markt.

Jeder Mensch, hatte der Mann gesagt, jeder Mensch versucht, sich selbst zu entkommen.

Er nickte im Laufen, er lief schneller und er sagte nichts.

Die einen kämpfen, die anderen angeln, hatte der Mann gesagt.

Die Frau schrie ihm die Thunfischpreise entgegen, als könnte er nach vorne gehen und etwas daran ändern. 

Die einen heiraten, hatte der Mann gesagt, die anderen holen sich die Liebe von den Tieren, wenn sie vom Menschen keine bekommen.

Er war hier noch nie auf dem Markt gewesen.

Die einen rennen, die anderen töten, hatte der Mann gesagt.

Das letzte Mal auf dem Markt gewesen war er dort.

Jeder Mensch, hatte der Mann gesagt und gelächelt, jeder Mensch lebt irgendetwas aus oder weg, keiner ist nur so da, keiner hält es nur so aus, auch wenn Sie das denken, das denken Sie doch?

Jemand hatte ihn auf diesem Marktplatz von hinten angerempelt, und er hatte geglaubt, er wäre erschossen worden. Niemand hatte einen Arzt gerufen. Dass er nicht tot war, begriff er erst, als er eine der Aprikosen anfasste. Der Tod konnte kein Boden voller Aprikosen sein. 

Keiner, hatte der Mann nochmal gesagt, ist nur so da, keiner hält es nur so aus, auch wenn Sie das denken, das denken Sie doch?

Niemand hatte einen Arzt gerufen. Er war gestolpert, gestürzt, sonst nichts. In seinen Kopf konnte keiner sehen. Die Aprikosen ließ er liegen. Seinen Hut nicht.

Das Problem war, dass der Mann sich bald wiederholte.

Einer der Pudel pinkelte und blickte treu auf die Königin.

Das Problem war, dass der Mann sich bald wiederholte. 

Nach dem Sturz auf dem Markt fuhren sie zu seiner Schwester und blieben in der Stadt am Meer. Seine Frau stand vor ihm auf und ging nach ihm ins Bett.

Der Pudel sah aus, als lächelte er. 

Und wie entkommen Sie Ihrem Leben?, hatte er in all die Wiederholungen hinein gefragt, obwohl er gar kein Geld dafür bekam.

Die Königin lächelte zurück.

Indem ich mich den Leben anderer widme, hatte ihm der Mann geantwortet, und er hatte zum ersten Mal zurück gelächelt, weil er in diesem Moment beschlossen hatte, nicht mehr zu ihm zu gehen, nur noch ans Meer.

Der Jogger keuchte.

Phantasie, hatte der Mann an einem verregneten Donnerstag gesagt, hilft manchmal.

Phantasie, hatte der Mann an einem anderen Donnerstag wiederholt, an dem es erneut regnete, Phantasie kann eine Waffe sein.

Phantasie, hatte der Mann an einem Donnerstag verkündet, an dem die Sonne schien, Phantasie hilft mehr als die Erinnerung. 

Die anderen wären jeden Morgen da, hatte er beschlossen.

Zwei Fischer, ein junger Jogger, eine Frau mit drei Pudeln, und ein Mann, der gegen etwas kämpfte, das niemand sehen konnte außer ihm selbst.

4 Gedanken zu „Alter Egos“

    1. Liebe Frau Alexandra,
      etwas spannender bitte. In Rijeka passiert sicherlich etwas mehr als das, was Sie bislang mir erzählt haben. Mehr Dynamik, mehr plastische Bilder, mehr Dialoge, bitte!

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