Aber auf den dritten Blick

Rijeka besticht nicht auf den ersten Blick, auch nicht auf den zweiten.

Aus: „Europa erlesen: Rijeka“
Anthologie zu Rijeka, erschienen im März 2020 im Wieser-Verlag

Diese hübsche Anthologie dreht sich rund um Rijeka und zeichnet nicht immer ein schmeichelhaftes Bild von der Stadt. Aber die Worte der Herausgeber gehen natürlich weiter:

Rijeka besticht nicht auf den ersten Blick, auch nicht auf den zweiten. Doch wer tiefer blickt und in die Geschichte der Stadt eintaucht, dem tut sich ein erstaunlicher Mikrokosmos auf.

Diesen Mikrokosmos erahnt man schnell: Mehr als 80 Kurztexte widmen sich der Stadt, darunter Gedichte, Kurzgeschichten oder Romanauszüge. Die Autoren reichen von der bekannten kroatischen Autorin Daša Drndić (1946-2018) über den in Rijeka geborenen Ungarn Ödon von Horvath (1901-1938) bis zu dem deutschen Schriftsteller Veit Heinichen (*1957).

Der Blick auf die Stadt reicht weit zurück.

Rijeka! Città mia bella! Die Historie ist sich nicht im Klaren, ob die Phönizier, Liburner, Illyrer, Kelten, Römer oder Slawen diese Stadt wie einen Stein des Anstoßes gegründet haben. Allerdings weiß man, dass es die Phönizier und Liburner und Illyrer und Kelten und Römer und Slawen nachher legal und illegal zerstört haben. All das geschah im Milleniumjahr 19 und so weiter …

„Über babylonischen Wassern“ von Nikola Polić (1890-1960)

Vor allem das schmerzhafte Kapitel der italienischen Besetzung Anfang des vorigen Jahrhunderts wird immer wieder thematisiert.

Fiume schläft nur wir ein müdes Tier, das hämisch von neuen Bissen und Stichen träumt, eine graue gesichtslose Masse, Fiume schläft, eine Stadt ohne Seele und ohne Physiognomie.

„Fiume. Flüchtige Eindrücke“ von Antun Barac (1894-1955)

Aber auch die anschließende Vertreibung der Italiener unter der jugoslawischen Herrschaft gehört zur Geschichte der Stadt:

Zwischen 1947 und 1948 wurden alle in Fiume gebliebenen Italiener zur „Option“ aufgefordert, das heißt, sie mussten sich entscheiden, ob sie die jugoslawischen Staatsbürgerschaft annehmen oder das Land verlassen wollten. Meine Familie optierte für Italien und erlebte damit ein Jahr der Ausgrenzung und Verfolgung. Wir wurden aus unserer Wohnung geworfen und mussten mit all unseren aufgestapelten Sachen in einem Zimmer leben.

„Die Stadt erkunden“ von Marisa Madieri (1938-1996)

Weitere Texte arbeiten Nazi-Gräueltaten auf, beschreiben Racheakte der Partisanen oder die Verfolgung vermeintlicher Staatsfeinde durch die jugoslawische Geheimpolizei Udba.

Doch das Buch erschlägt einen nicht mit der Last der Geschichte des 20. Jahrhunderts: So geht es etwa auch um die Geschichte des Stadtwappens oder Rijekas Schutzheiligen (St. Veit), um Legenden zur römischen Festung Trsat oder des Grand Hotels Bonavia (dort ist auch Tito gerne abgestiegen).

Und natürlich spielt die Lage Rijekas eine Rolle: im Schoß die Adria, im Rücken die Berge, im Winter von Bora-Winden gepeitscht, im Sommer von der Gluthitze gelähmt.

Beim Lesen der poetischen Texte meint man fast, die Stadt riechen zu können:

Am Nachmittag verdunsten die Gerüche der Seile, des Meeres und des Hafens, die typisch für den Morgen und eine erwachende Stadt sind. Jetzt war die Luft in einem Käfig von Blech und Glas, es roch nach abgestandenem Zigarettenqualm und trüber Feuchtigkeit.

„Die Traumfrau“ von Srećko Cuculić (*1937)

Die Hitze wälzt sich vom Kalvarienberg, ergießt sich über die Mole und mit dem Müll fließt sie in einem Dunstschleier zum Nabel der Stadt. Hier nistet sie sich ein und wartet, dass der Tag vergeht.

„Die Schwangere“ von Daša Drndić (1946-2018)

Ich bin noch dieser Wind auf den Molen, dieses Halbdunkel in den Straßen, diese leicht fauligen Gerüche vom Meer und diese grauen Gebäude.

„Die Stadt erkunden“ von Marisa Madieri (1938-1996)

Und wenn Rijeka nicht auf den ersten (oder zweiten) Blick besticht, setze ich eben auf den dritten Blick: Am Sonntag geht die Reise endlich los!

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