Im August riecht das Meer faulig, und in den Unterkünften hängt der Geruch von Klospray. Im August sind die Tage immer gleich.
Das erste Schiff legt um halb sieben an und bringt die Angestellten. Kellner und Köche, Putzkräfte und Rezeptionisten, Gärtner und Hausmeister, Souvenir- und Eisverkäufer, Bademeister und Golftrainer, Tierpfleger und Tourguides. Außerdem die Fahrradverleiher und die Zugführer.
Das zweite Schiff hält um neun und lässt die Touristen aussteigen. Pärchen, Familien, Schulklassen, selten Alleinreisende. Danach kommt jede Stunde ein Schiff vom Festland, bis die Sonne untergeht. Die Hotels, die Cafés und der Zoo sind darauf eingestellt. Ein Touristenführer sammelt die Menschen nach Sprachen und bringt sie zu Zügen, die aussehen wie die Bummelbahnen auf einem Jahrmarkt. Die Kabinen haben nur halbhohe Türen und keine Fenster, die Türen werden trotzdem verschlossen. Die Fahrt dauert eine Stunde mit Pause. Pausen sind wichtig, damit die Kinder Eis essen und die Erwachsenen rauchen können, auch für die Selfies. Am beliebtesten sind der Elefant und der Papagei.
Die Insel gehörte dem Staatschef eines Landes, das es nicht mehr gibt, ein Land, das sich in Bürgerkriegen aufgelöst hat, als der Staatschef schon tot war. Er mochte Tiere und Frauen. Die Tiere sind bis heute zu sehen, ausgestopft wie die Affen und die Löwen oder lebendig wie der Elefant und der Papagei. Von den Frauen hängen Schwarz-Weiß-Fotografien in den Hotels. Von den Tieren auch.
Am schönsten ist die Insel am Morgen. Die Kirche auf dem Hügel, in den Wäldern Hirsche und Rehe, dazwischen die verlassenen Alleen. Über die verbrannten Wiesen rennen Feldhasen, dahinter die Sonne, rotrosa wie das Fleisch einer Blutorange. Um diese Zeit ist es still. Fische springen aus dem Wasser und verschwinden blubbernd, darüber Möwen, die über die verpasste Chance noch nicht kreischen. Im Souvenirshop hängen die Tassen mit dem Gesicht des Staatschefs im Dunkeln, die Duftkerzen in Elefantenform fallen niemandem aus der Hand. In den Cafés und Restaurants schlafen die Stühle auf den Tischen und die Gäste in den Häusern daneben.
Die Einheimischen bleiben öfter über Nacht als die Ausländer. Die Frauen essen zum Frühstück Melonen und füllen Müsli in mitgebrachte Dosen, die Männer machen Kraftsport am Strand. Manchmal feiert ein Kind Geburtstag und die Kellner singen ein Lied. Die Einheimischen fragen selten etwas.
Die Italiener aber wollen als erstes wissen, ob jemand ihre Sprache spricht. Und die Deutschen stellen Fragen, deren Antworten sie schon kennen. Sie sind vorbereitet. Bringen Sonnenmilch von zu Hause mit, haben für alles passende Hüte und Hüllen. Manchmal wollen sie am Strand ein Zelt aufbauen. Wenn die Bademeister das verbieten, diskutieren sie nicht. Die Deutschen sind die einzigen, die im Strandbistro fragen Do you have a table for two?, während die Italiener schon zwei Tische zusammen stellen oder drei. Die Italiener sind am liebsten in Gruppen, steht einer alleine herum, sieht er an sich herab als fehlte ihm ein Bein oder sein Telefon.
Die Italiener und die Deutschen kommen am häufigsten. Danach Briten, Franzosen, Spanier, gelegentlich Russen. Gemeinsam ist allen, dass sie anfangen zu trinken, wenn die Zugfahrt beendet ist, ich nehme das nicht persönlich. Touristen wollen immer wissen, was als Nächstes passiert, und wenn nichts mehr passiert, sind sie so erleichtert, dass sie anstoßen müssen.
Ich arbeite nicht so lange auf der Insel wie Vinko, der erst den Papagei trainiert hat, dann den Elefanten, dann wieder den Papagei. Aber genau so lange wie Franka. Franka verkauft die Tassen mit dem Gesicht des Staatschefs, und wenn ein Kunde sich nicht zwischen Erdbeer-, Feigen- und Walnussschnaps entscheiden kann, schüttet sie ihm einen Schluck in einen Plastikbecher. Neben ihrer Kasse baumeln Schlüsselanhänger: Best Mom, Best Friend, Best Lover. Best Mom ist meistens ausverkauft. Franka hat schwarzes Haar, das exakt auf ihre Schulter reicht. Sie hat mir den Best-Lover-Anhänger geschenkt, ich habe ihn immer noch, irgendwo.
Auf einer Insel bleibt nichts geheim. Sanja stiehlt die Eier der Vogelsträuße, Leonardo hat eine 16-Jährige auf dem Golfplatz geschwängert, die Touristen pinkeln gegen die Olivenbäume. Und Vinko hat Angst vor dem Elefanten, deswegen trainiert er wieder den Papagei. Der kann seinen Namen sagen und den des Staatschefs, die Insel aber hat eine Silbe zu viel, er krächzt nur den Anfang und das Ende. Wenn Vinko sich mal wieder ärgert, sagt er, dass er den Vogel grillen wird, dazu Kartoffeln und Schnaps, aber Vinko würde niemals seinen Vogel grillen, Vinko ist nicht zur Arbeit gekommen, als sein Hund gestorben ist.
Und der Elefant? Konnte mal erraten, unter welchem von drei Bechern seine Erdnüsse lagen, dabei musste er einen Hut tragen. Niemand vermisst das. Ein Elefant steht für sich, von einem Vogel wird mehr erwartet.
Es hat sich wenig verändert.
Die Touristen halten öfter ihre Displays zwischen sich und die Welt, und in den Cafés fragen sie nach anderer Milch als Milch. Aber wenn sie den Elefanten sehen, rufen sie immer noch, dass er einen langen Rüssel hat, und wenn sie mit dem Papagei reden, verstellen sie ihre Stimmen.
In meinem ersten Jahr stand ich morgens auf dem Schiff immer an der Reling. Franka auch. Die anderen erkannten wir daran, dass sie die Augen geschlossen hielten, sie schauten nicht aufs Meer, sie gingen nicht aufs Oberdeck. Aufs Oberdeck gingen sie nur, wenn unten alles voll war. Es dauerte drei Jahre, bis sie sich meinen Namen merkten.
Franka und ich fingen am selben Tag an. Der damalige Chef war im Urlaub und seine Frau wollte wissen, wer von uns einen Führerschein hatte. Franka schüttelte den Kopf. Sie bekam die Stelle bei den Souvenirs, ich den Schlüssel für die Züge. Drei Tage fuhr ich bei einem alten Mann mit, der ein halbes Jahr später starb, dann durfte ich die ersten Touristen über die Insel bringen. Weil die Tourguides alles erklären, muss ich wenig tun, nur am Café im Zoo anhalten und nach zehn Minuten rufen, dass wir weiter fahren.
Mir fällt nur ein Tag im August ein, der anders war.
Der Chef ließ eine Limousine vom Festland bringen, die Gärtner banden weißen Bändchen um die Bäume, Vinko predigte dem Papagei die Namen der Eheleute. Ich sollte helle Farben tragen und kaufte ein weißes T-Shirt und eine beige Hose. Vorher rasierte ich meinen Bart ab, sonst stutzte ich nur die Enden. Es war meine einzige Hochzeit. Menschen heiraten gerne auf Inseln.
Das Ehepaar kam aus Deutschland und war so jung wie ich, nur Franka war noch jünger. Mir fiel als erstes das Kind auf, ein kleines Mädchen, das mit weit gespreizten Beinen in einem Buggy schlief. Ich fand den Anblick unangenehm, obwohl es ein Kind war, aber vielleicht auch deswegen. Die Frau war zierlich, der Mann erinnerte mich an einen großen Hamster. Sie lachten viel und stellten keine Fragen. Die Fahrt war für die Stunde zwischen Trauung und Kaffee geplant, Franka trug ein gelbes Kleid und verteilte Erdbeerschnaps vor der Kirche.
Ich fragte mich, ob ich nach meiner Hochzeit als Erstes durch einen Zoo fahren wollen würde. Ich weiß nicht mehr, ob ich dabei an Franka dachte. Ich konnte mir nicht vorstellen, auf einer Insel zu heiraten. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, zu heiraten. Ich hatte noch nicht mal Silvester mit einer Frau verbracht.
Das deutsche Paar hob seine Tochter aus dem Buggy und setzte sich mit ihr in die erste Reihe. Dahinter die Eltern, einige Alte, beschwipste Freunde, Kinder in bunten T-Shirts. Der Chef schüttelte der Frau und dem Mann die Hand, gab dem Kind einen Lutscher und verschwand im Bootshaus. Seine Frau kam danach und trank zwei Schnäpse. Die beiden verband nur die Insel, heute sind sie geschieden, neulich erzählte jemand, die Frau lebe mit einem alten Pferd und drei Windhunden zusammen. Der Chef mochte keine Tiere und wollte den Zoo immer abschaffen. Aber ohne Zoo wäre es nur eine Insel mit Hotels und Sportanlagen, und davon gibt es genug. Später wurde er entlassen. Mittlerweile leitet die Insel ein ehemaliger Koch, der kein Fleisch isst, hier ist das selten, fast ein Witz.
Ich fuhr los.
Auch diesmal betete jemand das Leben des Staatschefs herunter, ein Student, der in der Hauptstadt studierte und von allen Führern am besten Deutsch sprach. Ich war inzwischen drei Jahre dabei und hatte die Sätze so oft gehört, dass ich sie in Sprachen mitsprechen konnte, die ich gar nicht verstand. Die monotone Stimme nervte, Milan oder Milo, ich habe mir nur sein Gesicht gemerkt, nicht seinen Namen, und ich weiß noch, dass ich dachte, die Deutschen hätten etwas Besseres verdient, Musik nämlich. Das war doch eine Hochzeit, kein Politikseminar. Wir fuhren nicht lange.
Es geschah gleich nach der Einfahrt in den Zoo. Ich dachte noch, dass die Ohs und Ahs immer gleich waren. Grinste ich?
Ein Schrei, ein Schlag.
Ich stoppte den Zug, drehte mich, sah die offene Tür, sah es liegen. Das Mädchen auf dem Asphalt. Es lag auf dem Rücken, das rechte Bein verdreht. Es versuchte, seinen Kopf zu bewegen. Die Mutter sprang aus dem Zug, der Vater hinterher, sie beugten sich über ihr Kind und ihre Eltern über sie, dahinter die Freunde, Telefone an Ohren, Hände in Handtaschen, eine Frau im roten Kleid rannte mit einer Flasche Wasser los und blieb auf halber Strecke stehen.
Jeder fühlte sich auf seine Weise fehl am Platz.
Nur ein paar Kinder lachten immer noch und deuteten auf den Elefanten. Sie begriffen nicht. Milan oder Milo war weiß im Gesicht. Ich nahm das Funkgerät. Ich sprach hinein. Ich funktionierte. Der Vater schwang die halbhohe Tür der Kabine hin und her, er rüttelte an ihr wie ein Wilder, der Mund grotesk verzerrt. Eine alte Frau rannte schreiend auf mich zu und kam ganz nah an mein Gesicht.
Für solche Momente braucht man nicht die gleiche Sprache.
Die Aufnahmen der Kameras am Eingang des Zoos zeigten später, wie das Kind im Stehen rausgeguckt hatte. Es verlor das Gleichgewicht und stützte sich auf die Klinke.
Und dann fiel es durch die geöffnete Tür.
Damals wurden die Türen der Kabinen nicht verschlossen. Sie hatten keine Schlösser. Die Schlösser wurden nach dem Unglück eingebaut, obwohl das teurer war, als die Züge zu ersetzen. Aber neue Züge hätten ausgesehen wie ein Geständnis. Der Chef verlor den Prozess trotzdem.
Ich stand nie vor Gericht. Die Kameras zeigten auch, dass mich keine Schuld traf, das Gutachten ergab, dass ich sogar langsamer fuhr als vorgegeben. Gutachten und Kameras sind keine Menschen. Als ich an diesem Samstagnachmittag zurück zum Hafen kam, war Franka fort. Ich wartete, bis die Sonne aufging. Ein Trottel, der rauchte.
Am folgenden Montag fuhr ich zwei Touren statt acht. Nicht, weil ich nicht konnte. Aber weil weniger Menschen kamen. Die Flaute hielt drei Wochen. Und die anderen kannten jetzt meinen Namen.
Der Herbst kam. Die Schiffe wurden weniger, aber sie waren wieder voll. Franka wartete nach Feierabend auch nicht mehr im Zugdepot, ich wusste es, ohne nachzusehen. Ich rauchte stattdessen hinter den Volieren, zweimal legte mir Vinko die Hand auf die Schulter. Ich nahm sie weg, weil es nicht um mich ging. Heute glaube ich, er meinte nicht den Unfall. Sondern Franka.
Ein Jahr lang redeten die anderen in den Pausen, auch wenn ich dabei saß.
Viel zu lange.
Schwellung im Kopf.
Dass er wirklich im Zebragehege landen musste.
Gestorben im Helikopter.
Wenn sie vom Helikopter anfingen, stand ich auf und ging. Sie wussten nichts, was ich nicht selbst gesehen hatte.
Aber sie klangen so.
Im vierten Sommer begann der Prozess. Ich war als Zeuge geladen. Der Vater hatte weniger Haare, die Mutter war in Deutschland geblieben. Keiner erinnerte sich an mich. Mein Bart war lang, mein Bauch dick. Sie konnten mich erst nach meiner Aussage zuordnen. Aber keiner sprach mich an. Die Verhandlung dauerte zwei Jahre. Am Ende gab es Geld. Geld für ein Kind. Der Elefant und der Papagei leben immer noch.
Ich stehe morgens schon lange nicht mehr an der Reling. Franka raucht nach Feierabend heimlich. Sie hat ein Baby mit einem Engländer. Vielleicht hat sie ihm eine Tasse mit dem Gesicht des Staatschefs geschenkt. Ich lebe mit einer Frau zusammen, die ihren Mann noch pflegt, er hat Krebs, viele hier haben schon in unserem Alter Krebs. Ich arbeite an jedem Jahrestag.
Am zehnten kaufte ich Zigaretten wie jeden Morgen. Ich wollte die Zeitungen ignorieren wie in den Jahren davor, genau so ignorieren wie die Augen der Verkäuferin mich ignorierten, einem Menschen, der ein Unglück erlebt hat, sieht man nicht in die Augen. Eine Schlagzeile sprang mich an diesem Morgen trotzdem an.
Die Schicht auf der Insel lief ruhig, keiner sah den Satz in meinem Kopf. Später fütterte ich den Papagei, weil Vinko Urlaub hatte. Der Papagei biss in meinen Zeigefinger, es war ein Interview mit der Mutter.
Ich will kein zweites Kind, es wird nicht so wie das erste.
Die Einheimischen kommentieren es nicht, wenn wir sie in dem kleinen Zug einschließen, weil die meisten sich erinnern. Die Italiener lachen darüber, und die Deutschen beschweren sich manchmal. Ich diskutiere nicht mit ihnen.
Ich mache nur meine Arbeit und schweige.
Sehr berührend. Und erstaunlich, dass du von einer Reise zwei so verschiedene Geschichten mit so unterschiedlichen Stimmungen mitbringen kannst. Das ist wirklich eine Kunst.