Bei Zoom braucht man keinen Mundschutz, nur eine Flasche Club Mate (in Berlin) und ein Glas Whiskey (in Dundalk): Letzte Woche habe ich mich per Videocall mit Marcel Krueger getroffen, dem letztjährigen Stadtschreiber. Marcel hat 2019 im Auftrag des Deutschen Kulturforums östliches Europa fünf Monate aus dem polnischen Olsztyn/Allenstein gebloggt.
Zehn Fragen wollte jeder für den anderen vorbereiten, um dann jeweils einen Text über die Begegnung zu schreiben – Bedingung: nur eine Frage durfte mit Corona zu tun haben. Die Fragen haben wir bald vergessen, das Gespräch ging aber fast zwei Stunden. Mein Text dazu kommt morgen, hier ist Marcels:
Irish Whiskey und gebrochene Herzen in der U8
Das schlimmste an der Corona-Pandemie für mich sind die ausbleibenden Reisen und das damit einhergehende Fernweh. In dieser Woche vor einem Jahr habe ich mein Stipendium als Stadtschreiber von Allenstein/Olsztyn begonnen, eine fantastische Zeit in Ermland-Masuren und persönlich wie professionell eine der wichtigsten Erfahrungen der letzten Jahre für mich.
Umso trauriger war ich, als ich erfuhr, dass die diesjährige Stadtschreiberin Alexandra Stahl ihr Stipendium in Rijeka (das hoffentlich genauso fantastisch wird) vorerst wegen einer gewissen globalen Pandemie und den damit verbundenen Reisebeschränkungen nicht antreten kann. Nichtsdestotrotz hat Alexandra jetzt bereits begonnen ihren Blog zu befüllen, und dokumentiert hier ihre räumliche wie sachliche Annäherung an die Stadt und das Land.
Alexandra und ich hatten uns zu einer Corona-Videokonferenz verabredet mit dem Plan, uns gegenseitig zu interviewen – zehn Fragen für jeden, mit der Absicht, das als Rückblick auf Allenstein/Olsztyn und Vorschau auf Rijeka hier in Alexandras Blog zu veröffentlichen.
Eigentlich hatten wir uns zu einem Feierabendbier verabredet, aber Alexandra hat mit einer Flasche Club Mate geschummelt – was ich dann mit einem Glas irischen Whiskeys aus meiner Grafschaft Louth wieder wett machen musste.
Was wir dann nicht getan haben: Uns strikt gegenseitig zehn Fragen zu stellen oder über Corona zu sprechen.
Was wir getan haben: Uns fast zwei Stunden angeregt über alles östlich von Irland und nordwestlich von Kroatien zu unterhalten.
Zum Beispiel:
- über unsere Liebe zu Berlin als eine Stadt, in der es alles andere als Deutsch zugeht
- über die U8, die zwischen Alexandras Kiez in Neukölln und meiner alten Nachbarschaft im Wedding einen ziemlich exakten Querschnitt von Berlin und seinen Menschen bietet
- über Erich Kästners Roman Fabian, in dem der Protagonist aus einer Straßenbahn aussteigt, da eine Mitreisende wie Friedrich der Große aussieht
- über die Faszination für Triest, die wir beide teilen, und den Film über Italo Svevo und James Joyce, den alle Besucher im winzigen James Joyce Museum dort vorgeführt bekommen (und zwar auf VHS)
- über meinen besten Freund auf dem Gymnasium, einen Kroaten, und den Einfluss des Krieges auf die Kroaten in Deutschland und wie sehr – zu meinem späteren Erschrecken – deren Patriotismus mich damals als 14-Jähriger beeindruckt hat
- darüber, wie man durch Küche und Bücher schneller einen Zugang zu anderen Ländern bekommen kann, als durch die Nachrichten
- über meine Lieblingsschriftsteller W.G. Sebald und Jörg Fauser (wobei ich natürlich wie immer zuviel geredet habe)
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- über die Fähigkeit im Alltäglichen und dem Spazieren und Reisen die Tragödien des 20. und 21. Jahrhunderts zu erfahren und besser zu verstehen
Und vielleicht haben wir dadurch zu einem kleinen Teil umgesetzt, was Geoff Dyer im Vorwort zur englischen Ausgabe von Rebecca Wests Buch Schwarzes Lamm und grauer Falke (Black Lamb and Grey Falcon, 1942) einmal schrieb:
[Es geht] um zwei Themen: Das erste ist Jugoslawien, das zweite alles andere.
Und wichtig bei allem anderen ist für Alexandra und mich, so behaupte ich jetzt einfach mal freimütig, auch der schreiberische Blick auf Deutschland aus der Distanz, geographisch wie emotional.
Ich stelle diesen Text am 8. Mai fertig, an einem Tag der Befreiung und des Nachdenkens, und muss daran denken, was ein amerikanischer Bekannter von Alexandra einmal zu ihr sagte; nämlich dass sie auch eine dieser self-hating German sei, eine der sich selber hassenden Deutschen.
Aber vielleicht hilft uns ein kritischer Blick auf das Land unserer Geburt es noch mehr zu schätzen, weil wir versuchen, es in seiner Gesamtheit zu erfassen – mit dem Holocaust, der innerdeutschen Geschichte, seinem Rassismus und dem blinden rechtem Auge.
Heute hat Bundespräsident Steinmeier in seiner Rede zum 8. Mai gesagt, dass man dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben [kann], und wenn mir diese Anmaßung gestattet sei, dann sind wir manchmal vielleicht die besseren Chronisten Deutschlands, wir self-hating Germans mit den gebrochenen Herzen in Allenstein/Olsztyn und Rijeka.
2 Gedanken zu „Treffen sich zwei Stadtschreiber (1)“