Möwen in Slow-Motion und betrunkene Journalisten: Die Rijeka-Serie »Novine«

Hätte mich jemand gefragt, hätte ich nicht geglaubt, dass es auf Netflix kroatische Fernsehserien gibt. Nun, kroatische Fernsehserien gibt es auch nicht, aber immerhin eine. Und die spielt in Rijeka! Vier Jahre ist die erste Staffel von Novine alt. Im März startete in Kroatien die dritte Runde, auf Netflix sind die ersten zwei Staffeln unter dem Titel The Paper zu sehen. Die habe ich mir natürlich angesehen. (Auf Kroatisch mit deutschen Untertiteln!)

Möwen in Slo-Mo am Hafen: Szene aus der Rijeka-Serie Novine auf Netflix

Es startet wie im Horrorfilm: Strömender Regen, zwei Frauen und ein Mann betrunken im Auto an einer verlassenen Kreuzung. Natürlich passiert jetzt nichts Gutes – und schon klopft einer ans Fenster. Ein Obdachloser will Geld, die jungen Leute lachen ihn aus, der Mann wird wütend, stellt sich vor den Wagen, verflucht sie. Aber verschwindet. Die Kamera folgt ihm. Der Mann murmelt immer noch Flüche, als plötzlich ein lauter Knall zu hören ist. Nun steht der Schrecken in seinem Gesicht, und auf der Kreuzung hinter ihm stehen zwei Unfallautos.

Was ist passiert?

Wir sehen noch einer der Frauen beim Sterben zu. Und dann dem zweiten Wagen, wie er verschwindet, ohne dass irgendwer nach den Verunglückten gesehen hätte. Nach dieser Szene ist klar: Jeder kämpft hier für sich allein. Auch der Obdachlose ist längst verschwunden.

Eine Zeitung wird zum Spielball

Der Unfall zu Beginn sorgt dafür, dass die in Rijeka ansässige Tageszeitung Novine von Mario Kardum (Aleksandar Cvjetković) gekauft wird, einem fiesen Bauunternehmer mit wirklich zu viel Pomade im Haar.

Kardum will die letzte linksliberale Zeitung Kroatiens kontrollieren und das Verbrechen vertuschen – was er damit zu tun hat, muss nicht verraten werden. Bald ist klar: Hier spielt jeder ein doppeltes Spiel.

Der Zuschauer sieht nun einer ganzen Reihe Journalisten beim Leben zu – eine traurige Mischung aus Artikel schreiben, Alkohol trinken und Affären haben.

Dijana und Andrej bei ihrer Lieblingsbeschäftigung: Schnaps nach Redaktionsschluss in der Stammbar

Schon nach wenigen Folgen gibt es keine Figur mehr, die nicht irgendwen auf irgendeine Weise belügt oder betrügt (wenn auch nur sich selbst), und bevor einer an sein Telefon geht, um seine Probleme zu lösen oder wenigstens mit ihnen zu sprechen, fällt es ihm lieber vom Tresen. In der Ecke sitzt eh schon Vinko, eher Barhocker als Mensch, in jedem Fall Stammtrinker wie die anderen.

Denen steht Chefredakteur Martin Vidov (Zijad Gračić) vor, in der Redaktion idealistischer Journalist (zumindest am Anfang) , zuhause ein missmutiger Grummel, der seinen Liebhaber immer wieder vor den Kopf stößt. Und irgendwann auch tritt!

Nikola Martić (Trpimir Jurkić) wiederum ist irgendetwas zwischen engagiertem Politikreporter und gleichgültigem Familienvater, aber sitzt von dem Moment an, in dem seiner Frau das zu blöd wird, nur noch mit verknautschtem Gesicht und Trinkerbart auf seinem Drehstuhl. Den muss er für jede Besprechung extra in den Konferenzraum schieben (der running gag der ersten Staffel).

Star der Redaktion (und der Serie) ist die bei Politikern gefürchtete Investigativ-Reporterin Dijana Mitrović (Branka Katić), die eine Klavier spielende Katze namens Franz hat und von allen Figuren die unmoralischste Affäre unterhält. Was weniger daran liegt, dass der Mann verheiratet ist, sondern daran, mit wem er das ist. Es ist wirklich hässlich. Zeit, auch mal einen Artikel zu schreiben, hat sie in der ersten Staffel nicht wirklich.

Außerdem Teil der Redaktion: der verpeilte Andrej (ich habe nicht mitgezählt, glaube aber, er hatte im Laufe von zwei Staffeln mit jeder der weiblichen Hauptfiguren etwas), die strenge Alenka (Ex-Frau von Andrej, dem sie nur noch den Mittelfinger zeigt), die aufstrebende Tena (ähnlich begehrt wie Andrej; trifft am Ende der zweiten Staffel noch die beste Partnerwahl).

Männer beim Sich-Hassen

Zurück zum Unternehmer Mario Kardum: Der ist Teil eines korrupten Männergeflechts aus Politik, Polizei, Justiz, Geheimdienst und Kirche. Dass der Erzbischof ein fiependes weißes Schoßhündchen hat, heißt gar nichts.

Schnaps steht auch hier immer bereit, wenn es keine Gläser mehr gibt, wird aus der Flasche getrunken. Und je dreckiger die Deals sind, desto herzlicher lacht man miteinander.

In dieser Runde wird Rijekas Bürgermeister Ludvig Tomašević (Dragan Despot), der Präsident werden will und den selbst seine eigene Partei für einen Psychopathen hält, zum Gegenspieler Kardums. Denkt man nach den ersten paar Folgen noch, dass es wenig schrecklichere Figuren wie Kardum gibt, fängt man fast an, ihn zu mögen, je mehr man von dem ultrarechten Politiker Tomašević sieht. Auch hier: wirklich hässlich.

Wir sehen also zwei Männern und ihren Gefolgsleuten beim Sich-Hassen zu, wie eine Tageszeitung ihre Unabhängigkeit aufgeben muss und wie alle, die in diesen Machtkampf verstrickt sind, sich selbst oder die, die sie lieben, verlieren.

Wie in allen guten Serien sind die Figuren ambivalent und inkonsequent. Wer wen verrät oder deckt und warum, ist komplex – wer nicht aufpasst, ist schnell verwirrt. Die Serie traut dem Zuschauer was zu. Und reicht tief.

Hier hat alles mit dem Krieg zu tun.

Informant auf die Frage: Hat das mit dem Krieg zu tun?

Es geht um Sexismus und Gewalt, um Pressefreiheit, um Nationalismus und Kommunismus, und irgendwie auch immer noch um Jugoslawien.

Hat das mit dem Krieg zu tun?, fragt Andrej irgendwann einmal einen Informanten. Die Antwort: Hier hat alles mit dem Krieg zu tun.

Zu deprimierend?

Das Tolle an der Serie ist die feine Ironie, die durch die Szenen schimmert. Hier nimmt sich niemand zu ernst, viele der Machtspiele entwickeln fast Komik. Vor allem, wenn sie mit solchen Songs unterlegt werden:

Regisseur Dalibor Matanić betont die Ironie auch, wenn er die Figuren immer wieder einander gegenüber im Profil positioniert, wenn er aus der Vogelperspektive schräg auf sie hinunter blickt, wenn er besonders absurde Szenen in Slow-Motion zeigt (inklusive Möwen). Manche Figuren lecken sich gleich selbst im Spiegel ab, leidenschaftslose Affären gibt es nicht. Es wird ja auch genug getrunken.

Genug auch, um die Seiten zu wechseln: Nicht alle bleiben Journalisten.

Und Rijeka?

Zwielichtige Treffen finden am Hafen statt, Beziehungsgespräche über den Dächern der Stadt oder neben dem reißenden Fluss Rječina. Wenn nicht ohnehin Nacht ist, hängt der Himmel grau über der Stadt. Wie bunt sie sein kann, zeigt die erste Staffel eigentlich erst am Ende: Beim Karneval.

Eine letzte Figur noch zum Schluss: Erinnert sich noch jemand an den mysteriösen Zigarettenmann aus Akte X? Der stand immer irgendwo rauchend im Hintergrund und steckte Scully & Mulder im richtigen Moment eine braune Mappe mit Infos zu.

An den jedenfalls musste ich bei Blago Antić (Zdenko Jelčić) denken, ein zwielichtiger Ex-Geheimdienstler mit Tränensäcken wie Topflappen. Er weiß immer ein bisschen mehr – und lacht ein bisschen süffisanter. Nur am Ende nicht mehr.

Blago Antić – so mysteriös wie der Zigarettenraucher aus Akte X

The Paper, auf Netflix im kroatischen Original mit dt. oder engl. Untertiteln.

Trailer zur Serie

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